Klassifikation und Diagnose: Eine historische Betrachtung
Esstörungenund Adipositasbezeichnen Phänomene, bei denen die Menge der aufgenommenen Nahrung bzw. das resultierende Körpergewicht als krankhaft gelten. Wie bei anderen psychischen Störungen werden diese Phänomene in ihrem Wesen durch ein kausales Zusammen
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2
Klassifikation fi und Diagnose: Eine historische Betrachtung
3
Tilmann Habermas
4
1.1
Ein wahrhaft biopsychosoziales Phänomen – 4
1.5
Geschichte der Bulimia nervosa und ihrer Diagnose – 6
5
1.2
Geschichte der Adipositasdiagnose – 4
1.6
6
1.3
Geschichte der Magersucht (Anorexia nervosa) und ihrer Diagnose – 5
Einfl flüsse der medizinischen Krankheitsbegriffe ff auf die Essstörungen – 7
1.7 1.4
Geschichte der Diagnose von Heißhungeranfällen und Sich-Überessen (Binge-Eating, Bulimie) – 6
Zukünftige Entwicklungen der Klassifikation fi und Diagnose – 7
1.1
Ein wahrhaft biopsychosoziales Phänomen
1
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Essstörungen und Adipositas bezeichnen Phänomene, bei denen die Menge der aufgenommenen Nahrung bzw. das resultierende Körpergewicht als krankhaft ft gelten. Wie bei anderen psychischen Störungen werden diese Phänomene in ihrem Wesen durch ein kausales Zusammenwirken sozialer, psychischer und biologischer Bedingungen verursacht. Essen und Körperform liegen an der Schnittlinie zwischen Natur und Kultur. Deshalb spiegeln sich in der Auffassung ff von den Grenzen normalen Essens und der Körperform und in der Auffassung ff von der Natur krankhaft fter Abweichungen die je herrschenden Selbstkontrollnormen und Körperideale sowie die je herrschenden medizinischen Diskurse. Im historischen oder auch kulturellen Vergleich entgeht man ungleich leichter der Versuchung, das je aktuelle Verständnis zu hypostasieren. Essverhalten und Körperformen werden beispielsweise durch ökonomische Bedingungen beeinflusst. fl So haben erst die Industrialisierung der Nahrungsproduktion und die Mechanisierung des Transportwesens im 18. und 19. Jahrhundert dazu geführt, dass die Versorgung mit Lebensmitteln für
die Bevölkerung Europas sichergestellt war. Zudem reduzierten die Abnahme körperlicher Arbeit und wiederum die Mechanisierung des Transports im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die vom Einzelnen verausgabte Energie. Die Zunahme der Verfügbarkeit von und die gleichzeitige Abnahme des Bedarfs an Nahrung befreiten zusammen mit einer Deritualisierung und Individualisierung der Nahrungsaufnahme diese von ökonomischen und biologischen Zwängen und öffneten ff sie für andere Bedürfnisse und Zwecke (Habermas 1990, 7 Kap. 2). In diesem Kapitel geht es aber nicht um die soziokulturellen Randbedingungen, sondern um die Interpretation von Variationen der Nahrungsaufnahme und des Körpergewichts, die wir heute als Essstörungen und Adipositas bezeichnen. Beide Krankheitsbegriff ffe entstanden im engeren Sinne im 19. Jahrhundert.
1.2
Geschichte der Adipositasdiagnose
Extremes Übergewicht beschäftigt ft die Medizin seit ihren Anfängen. In der antiken griechischen Medi-
1.3 Geschichte der Magersucht (Anorexia nervosa) und ihrer Diagnose
zin fi finden sich viele Hinweise auf die Notwendigkeit der Mäßigung beim Essen und der körperlichen Ertüchtigung wie auch Überlegungen dazu, dass Übergewicht zu Krankheiten prädisponiere. Allerdings blieb die medizinische Aufmerksamkeit bis zum 19. Jahrhundert auf extre
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