Medizinische Stigmatisierung von Drogenkonsumenten aus historischer Perspektive
Normative und moralische Kriterien prägten das Krankheitsbild der Sucht seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert. Mit dem Aufstieg naturwissenschaftlicher Deutungsmuster erhielt die Sucht die Qualität eines unauslöschlichen Stigmas. Mediziner betrachtete
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Zusammenfassung
Normative und moralische Kriterien prägten das Krankheitsbild der Sucht seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert. Mit dem Aufstieg naturwissenschaftlicher Deutungsmuster erhielt die Sucht die Qualität eines unauslöschlichen Stigmas. Mediziner betrachteten Trinker und Konsumenten anderer psychoaktiver Substanzen als konstitutionell minderwertige Individuen und verknüpften den Genuss von Alkohol, Morphium und Kokain mit verschiedenen Formen sozialer und sexueller Devianz. So entstand im 20. Jahrhundert das Negativbild des Süchtigen, das den gesellschaftlichen Blick auf Drogenkonsumenten bis heute beeinflusst. Schlüsselwörter
Sucht • Psychiatrie • Alkohol • Morphium • Kokain
Inhalt 1 Die Ambivalenz der Sucht zwischen Krankheit und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 Der Süchtige – ein medizinisches Mängelwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3 Abweichendes Verhalten als Folge des Konsums psychoaktiver Substanzen . . . . . . . . . . . . . . 12 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
H. Walter (*) Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] # Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 M. von Heyden et al. (Hrsg.), Handbuch Psychoaktive Substanzen, Springer Reference Psychologie, DOI 10.1007/978-3-642-55214-4_83-1
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H. Walter
Die Ambivalenz der Sucht zwischen Krankheit und Moral
Die Geschichte der Sucht ist immer auch eine „Geschichte dessen, was in der Medizin als normal galt“ (Wiesemann 2000, S. 9). Gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatten über den Themenkomplex Drogenkonsum und Sucht verhandeln mehr oder weniger implizit stets auch Normen, Werte, Körperbilder und soziale, moralische sowie sexuelle Rollenbilder (Renggli und Tanner 1994, S. 23–25). Dass derartige Vorstellungen von Normalität und Devianz bei der Herausbildung des Krankheitsbilds der Sucht eine mindestens ebenso große Rolle spielten wie naturwissenschaftliche Erkenntnisweisen, offenbaren die medizinischen Diskurse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die im Folgenden im Fokus stehen. Aufgrund der terminologischen und diagnostischen Vielfalt der verschiedenen nationalen und internationalen psychiatrischen Schulen konzentriert sich die Darstellung dabei im Wesentlichen auf die deutschsprachigen medizinischen Publikationen zum Themenfeld Sucht, die bis in die 1930er-Jahre hinein erschienen. Die damaligen Debatten sind nicht allein deswegen von aktueller Bedeutung, weil in jener Phase die Grundlagen für die vielfach noch heute dominierende juristische, polizeiliche und therapeutische Behandlung der Drogenproblematik gelegt wurde (Scheerer 1993). Sie prägten zudem das langlebige und wirkmächtige Konstrukt des idealtypischen Süchtigen als konstitutionelles und deviantes Mängelwesen. Um die kulturelle und normative Verfasstheit dieses medizinischen Musterbilds offenzulegen,
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