Statt Stullen am Pfarramt
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© Miriam Freudig
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DER FREIE ZAHNARZT - Dezember 2020
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Statt Stullen am Pfarramt Ehrenamt. Zweimal in der Woche behandeln Zahnärztinnen und Zahnärzte in Berlin Menschen ohne Krankenversicherung, für die der Malteser Hilfsdienst extra eine Praxis eingerichtet hat. Behandelt wird jeder ohne große Nachfrage. Viele wüssten sonst nicht, wohin mit ihren Schmerzen. AUTORINNEN: MARION MEYER-RADTKE UND MIRIAM FREUDIG (FOTOS)
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© Miriam Freudig
EHR NOVEMBER GEHT SELBST IN BERLIN NICHT.
Es ist grau, es ist neun Uhr, es sind acht Grad. Vor dem Gertrauden-Krankenhaus im Westen der Stadt stehen knapp zwei Dutzend Menschen fröstelnd im Nebel und warten geduldig auf Einlass. Sie alle haben einen Termin und müssen zum Arzt. Doch Corona bestimmt den Takt – das Wartezimmer darf nicht zu voll laufen. Also flitzt eine Assistentin immer hin und her. Zur Eingangspforte: Wer ist bei welchem Arzt angemeldet und zu welcher Zeit? Dann zum Behandlungstrakt in den ersten Stock, höchstens vier Menschen auf einmal im Schlepptau, Liste aktualisieren, schauen, wie viele nachrücken können, und wieder runter. Die Assistentin hat dunkle Locken, eine dunkle Brille und eine unerschütterliche Freundlichkeit, die auch gegen Mittag nach drei Stunden treppauf, treppab noch nicht verflogen sein wird. Auch im Zahnbehandlungszimmer herrscht schon zu früher Stunde beste Laune, und das, obwohl der Tag kurz vorher mit einer unschönen Entdeckung begonnen hat. „Heute werden wir hier nicht viel machen können“, begrüßt Zahnarzt Stefan Crusius seinen Assistenzzahnarzt Ben Feldberg, während der seine Jacke in den Spind hängt. „Unsere Absauganlage geht nicht. Ich mache sie an und – tot.“ Dabei war die Anlage erst wenige Tage vorher gewartet worden. Assistentin Pia Piro versucht gerade, einen Techniker heranzutelefonieren. Vergeb-
lich: Er kann erst am nächsten Tag vorbeischauen. Also sind heute keine Behandlungen möglich, nur Befunde. Dreizehn Patienten stehen auf der Liste. „Die kommen aber sowieso nicht alle“, weiß Crusius aus Erfahrung.
8.000 BEHANDLUNGEN PRO JAHR
Langmut und eine Portion Fatalismus – das gehört hier sozusagen zur Jobbeschreibung. Denn Crusius, Feldberg und Piro arbeiten nicht in einer regulären Zahnarztpraxis, sondern ehrenamtlich für den Hilfsdienst Malteser Medizin für Men-
Eingespieltes Team: Stefan Crusius, Ben Feldberg, Pia Piro (v.l.)
Dezember 2020 - DER FREIE ZAHNARZT
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schen ohne Krankenversicherung (MMM), und das bedeutet: für eine sehr besondere und höchst diverse Klientel. Ursprünglich hatten die Malteser diesen Dienst im Jahr 2001 für Flüchtlinge und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus eingerichtet. Seit einigen Jahren aber kommen zunehmend Menschen aus EU-Ländern, vor allem aus Osteuropa, manchmal amerikanische Touristen und auch viele deutsche Bürger, die keinen Versicherungsschutz haben. Der Bedarf ist enorm. „Sie hätten mal vor Corona kommen müssen“, sagt Crusius. „Da war hier um neun Uhr schon immer der ganze Flur voll, 80 Leute, die Schlange standen. Nicht alle für uns, Gott sei Dank.“ Rund 8.000
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