Glaubenswelt und Lebenswelt
In dem Dorf an der Grenze zwischen der Schwäbischen Alb und dem Schwarzwald, in dem ich als Kind während des Zweiten Weltkriegs aufwuchs, bestanden strikte Grenzen zwischen katholischen und evangelischen Lebenswelten. Unser Dorf war evangelisch, und zwar
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Hartmut Lehmann
In dem Dorf an der Grenze zwischen der Schwäbischen Alb und dem Schwarzwald, in dem ich als Kind während des Zweiten Weltkriegs aufwuchs2, bestanden strikte Grenzen zwischen katholischen und evangelischen Lebenswelten. Unser Dorf war evangelisch, und zwar ohne Ausnahme. Die ersten Katholiken, die ins Dorf kamen, waren 1943 und 1944 BombenÁüchtlinge aus dem Ruhrgebiet. Sie wurden misstrauisch beobachtet und, so weit es überhaupt ging, ausgegrenzt. Selbst wir Kinder machten da mit. Niemand wollte mit ihnen etwas zu tun haben. Wurde im Dorf etwas gestohlen, was häuÀg vorkam, dann wurden zuerst die Katholiken verdächtigt. Ähnlich dürfte es auch evangelischen Flüchtlingen ergangen sein, die es damals etwa ins katholische Bayern verschlug. Erst in den folgenden Jahrzehnten kamen sich in Württemberg ebenso wie in Bayern Einheimische und Flüchtlinge allmählich näher. Erst dann kam es zu ehelichen Verbindungen zwischen Protestanten und Katholiken, zu Verbindungen, die lange Zeit mit dem diskriminierenden Begriff der ‚Mischehe‘ belegt wurden und die erst in jüngster Zeit von einigen Geistlichen als ‚konfessionsverbindende Ehen‘ bezeichnet werden.
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Angesichts der außerordentlich reichen Literatur zu den Themen Konfessionalisierung und Konfessionalismus sowie auch zur neueren deutschen Geschichte insgesamt ist es nicht möglich, alle einschlägigen Titel zu nennen. Deshalb nehme ich nur solche Titel in die Anmerkungen auf, deren Lektüre geeignet ist, die an den betreffenden Stellen jeweils diskutierte Thematik zu vertiefen. Es handelt sich um Talheim bei Tuttlingen.
C. Böhr (Hrsg.), Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes, Das Bild vom Menschen und die Ordnung der Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-11198-4_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
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Hartmut Lehmann
Mit meiner persönlichen Erinnerung will ich andeuten, dass die Grenzen zwischen den Konfessionskulturen in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts relativ scharf gezogen waren. Das waren, mit wenigen Ausnahmen, immer noch die im Westfälischen Frieden von 1648 gezogenen Grenzen. Erst im 19. Jahrhundert kam es mit der Industrialisierung in vielen Gegenden von Deutschland zu einer erheblichen Binnenwanderung und damit zu einer gewissen Verwischung der konfessionellen Grenzen. Katholische Polen fanden überdies Arbeit in den rasch wachsenden Städten des Ruhrgebiets und zwar auch dort, wo immer schon Protestanten gewohnt hatten. Protestantische Arbeiter zögerten nicht, auch in katholische Städte, etwa nach Köln oder Münster, zu ziehen, wenn sie dort Arbeit fanden. Nach 1945 wurden im Westen Deutschlands den vielen Flüchtlinge aus dem Osten von den Behörden neue Wohnorte nicht nach Konfessionszugehörigkeit zugewiesen, sondern eben dort, wo es einigermaßen ging, das heißt dort, wo es Wohnraum gab, der vom Bombenkrieg nicht zerstört worden war. Zu einer weiteren dynamischen Binnenwanderung sollte es dann im Zuge der wirtschaftlichen Erholung der späten 1950er und 1960er Jahre im Westen Deutschlands kommen. QualiÀzierte j
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