Mythen der deutschen Nachkriegsentwicklung

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Mythen der deutschen Nachkriegsentwicklung Rudi Schmidt

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020

Herrmann, Ulrike: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind. Frankfurt a. M.: Westend 2019. 320 Seiten. ISBN: 978-3-86489-263-9. Preis: C 24,-.

Sachbücher liegen normalerweise unter dem Radar wissenschaftlicher Kritik; sie verwerten und verbreiten Wissenschaft, schaffen aber selten neues Wissen. Wenn an dieser Stelle doch auf ein solches Buch hingewiesen wird, dann deshalb, weil es auf drastische Weise auf ein Transferproblem aufmerksam macht, das zugleich ein Grundproblem wissenschaftlichen Selbstverständnisses berührt, inwieweit wissenschaftliche Relevanz an gesellschaftliche Akzeptanz gebunden ist. In dem 2019 erschienenen Buch der Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“ werden die gloriose Nachkriegsentwicklung der deutschen Wirtschaft und ihre ikonisierten Institutionen wie die harte D-Mark, die Bundesbank, das „Wirtschaftswunder“, die „soziale Marktwirtschaft“ und ihr vermeintlicher Protagonist Ludwig Erhard mit Verve demontiert. Das ist weniger rigoros schon von anderen versucht worden, und es gibt viel wissenschaftliches Material dazu, dennoch sind die darauf aufbauenden Legenden eigentümlich persistent. Wenn gesellschaftliche Mythen sich gegen alle Aufklärung so hartnäckig behaupten, muss in einer gesellschaftlichen Tiefenströmung ein Legitimationsbedürfnis wirken, das sich rationaler Aufklärung widersetzt. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik ist untilgbar mit der verbrecherischen Hinterlassenschaft des NS-Staats verknüpft, und das verbissene Streben nach ökonomischem Erfolg wirkt wie Selbstbetäubung angesichts der offenbar geworR. Schmidt () Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena Carl-Zeiss-Str. 2, 07743 Jena, Deutschland E-Mail: [email protected]

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R. Schmidt

denen Schmach, wie ein Ausdruck des Verlangens nach irdischem Ablass für den säkularen Zivilisationsbruch. Schon Hannah Arendt ist dieser Zusammenhang bei ihrem „Besuch in Deutschland“ 1950 (In: Arendt: Zur Zeit. Politische Essays. Hamburg 1999, S. 51) aufgefallen. „Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern ... oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.“ Und zuletzt Herfried Münkler (Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, S. 461): „Die Pointe des bundesrepublikanischen Gründungsmythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder bestand nun darin, all diese politischen Verwicklungen wegzuerzählen und alles auf den Fleiß und die Tüchtigkeit der Deutschen zulaufen zu lassen.“ Es gibt sicher noch weitere Gründe für diese Mythen, aber der von Herrmann für den Märchencharakter der „sozialen Marktwirtschaft“ angeführte überzeugt nicht: „Diese Legende sollte