Psychiatrischer Beitrag

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JOURNAL CLUB

Psychiatrischer Beitrag Selbstverletzendes Verhalten und Inhaftierung: neue Erkenntnisse für eine gezielte Prävention Stjepan Ćurić1 Eingegangen: 24. August 2020 / Angenommen: 27. August 2020 © Der/die Autor(en) 2020

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist eine der Hauptursachen von Morbidität Inhaftierter. Die jährliche Prävalenz von SVV in Gefängnissen beträgt 5–6 % bei männlichen und 20–24 % bei weiblichen Inhaftierten. Was sind die Ursachen dieser hohen Zahlen, die deutlich die SVVPrävalenz in der Allgemeinbevölkerung (1 %) übersteigen? Wie hoch sind die Stärke und Konsistenz der Effektgrößen bekannter Risikovariablen von SVV? Welche Maßnahmen erscheinen vor dem Hintergrund knapper Ressourcen besonders geeignet, gezielt zur SVV- und Suizidprävention beizutragen? In einer kürzlich in der Zeitschrift The Lancet Psychiatry erschienenen systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse versuchen Favril et al. (2020), Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie schlossen Querschnitts-, Fall-Kontroll- und Kohortenstudien mit überwiegend erwachsenen Inhaftierten sowie 2 bisher unveröffentlichte Studien in ihre Untersuchung mit ein. Dabei wurden Personen, die SVV im Haftkontext zeigten, denjenigen ohne Selbstverletzungen innerhalb einer Gefängnispopulation gegenübergestellt. Ausgeschlossen wurden narrative und ökologische Studien, Untersuchungen zu SVV ausgewählter Subgruppen, Studien, die die Lebenszeitprävalenz von SVV auch außerhalb der Haft im Fokus hatten, und Studien mit einer nichtrepräsentativen Vergleichsgruppe. Der primäre Endpunkt der Metaanalyse war das Chancenverhältnis („odds ratio“, OR) der SVV-Risikofaktoren. Dabei umfasste der Begriff „selbstverletzendes Verhalten“ sowohl suizidale als auch nichtsuizidale selbstverletzende Verhaltensweisen, denen ähnliche Risikofaktoren zugrunde liegen. Alle Risikofaktoren, die in mindestens 3 der ein´ c  Dr. med. Stjepan Curi´ [email protected] 1

Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland

geschlossenen Studien vorhanden waren, wurden mittels „Random-effects“-Modell untersucht und die OR als Maß der Effektstärke gebildet. Die AutorInnen schlossen insgesamt 35 Studien aus 20 Ländern mit zusammen 663.735 Gefangenen (davon 9,6 % Frauen), von denen 24.978 (3,8 %) SVV zeigten, ein. Unter den eingeschlossenen Studien waren 12 Querschnitts-, 6 Kohorten- und 2 prospektive Studien. Die 3 größten retrospektiven Studien untersuchten über 90 % der Studienpopulation. Die Risikofaktoren wurden in 5 Kategorien eingeteilt: (1) klinisch, (2) haftspezifisch, (3) soziodemografisch, (4) kriminologisch und (5) kritische Lebensereignisse betreffend. Von den 40 untersuchten Risikofaktoren standen die klinischen Risikofaktoren und darunter wiederum jene in Verbindung mit Suizidalität am stärksten im Zusammenhang mit SVV. Aktuelle oder kürzlich aufgetretene Suizidgedanken zeigten den stärksten Zusammenhang mit SVV (OR 13,8; 95 %-Konfidenzintervall [KI] 8,6–22,1). Das bedeutet, dass das Chancenv