Europa in der Vertrauenskrise?
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DOI: 10.1007/s10273-020-2721-4
Gunther Tichy*
Europa in der Vertrauenskrise? Die Europäische Union scheint sich in einer Vertrauenskrise zu befinden. Vor allem nach der Finanz- und Eurokrise kam es weiträumig zu langanhaltenden Vertrauensverlusten. Die Einschätzung wirtschaftspolitischer Probleme unterscheidet sich aber zwischen verschiedenen regionalen Gruppen deutlich. Auch die Erklärungsansätze für diese Unterschiede wurzeln in heterogenen historischen Entwicklungen. Allerdings ist weder eine generelle Gefährung der Demokratie noch eine grundsätzliche Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Europäischen Union zu erkennen. Die Corona-Krise hat zu einer drastischen Verunsicherung der Wirtschaft wie der Bürger und zu einem entsprechenden Einbruch des Vertrauens geführt. In den USA ist der Einbruch deutlich stärker ausgeprägt als in der Finanzkrise (Baker et al., 2020). In Deutschland hat sich der Geschäftsklima-Index des Ifo zwischen Februar und März um ein Drittel verschlechtert; er hat zwar bereits im April wieder um 7 % zugenommen, doch hält ein Vertrauensverlust nach den bisherigen Erfahrungen relativ lang an: nach der Finanzkrise wurde er erst zwischen 2014 und 2019 abgebaut. In der langen Periode bis zur Normalisierung des Vertrauens kommt es üblicherweise zu pessimistischen Übersteigerungen, die den Vertrauensverlust dramatisieren und als dauerhaft darstellen. Noch zehn Jahre nach der Finanzkrise, als das Vertrauen schon auf dem Weg der Besserung war, häuften sich Studien und darauf basierende Medienkampagnen, die sich um eine weltweite Krise des Vertrauens in die Demokratie sorgten. Eine US-amerikanischen Studie fand, dass die Hälfte der Deutschen die Demokratie in Gefahr sieht (Pew, 2019), eine englische Studie erregte die Öffentlichkeit mit der Aussage, dass „dissatisfaction with democracy has risen over
© Der/die Autor(en) 2020. Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https:// creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht. Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert. *
Der Autor dankt F. Breuss, H. Pitlik und E. Walterskirchen für Kritik an einer früheren Fassung und für wertvolle Anregungen.
Prof. Dr. Gunther Tichy ist emeritierter Professor und Konsulent am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WiFO) in Wien.
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time, and is reaching an all-time global high“ (Foa et al., 2020). Zuvor wurden schon in US-amerikanischen (Algan et al., 2019; Pew, 2019) und deutschen (Schwarz, 2018) Studien Sorgen um die Demokratie in Europa bzw. Osteuropa geäußert: „The findings of this survey suggest that the countries polled are now in a dark and dangerous state, beset by fears for the future of democracy, freedom, and security. This reinforces the widespread perceptions reflected in contemporary media coverage of the region“ (Open Society, 2019, 25). Alle diese Studien basierten auf Daten, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung insofern überholt waren, als sie sich auf den Tiefpunkt der Vertra
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