Fragmentale Differenzierung und die Praxis der Innovation

Bei der Selbsterneuerung gesellschaftlicher Bereiche tritt gegenwärtig an die Stelle eindeutiger ökonomischer oder technowissenschaftlicher Leitdifferenzen eine allgemeinere und zugleich offenere Orientierung an Innovation selbst. Dieser neue Geist der In

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REPORT


Jan-Hendrik Passoth und Werner Rammert

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Innovationsprozesse in der Gegenwartsgesellschaft

Wenn es einen Imperativ gibt, der in der Gegenwartsgesellschaft als hegemoniale Handlungsorientierung taugt, dann ist es der Ruf nach Innovation1. Folgt man der aktuellen gesellschaftlichen Debatte, dann sind die Präferenz für das Neue und die Forderung nach Innovation längst nicht mehr auf wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Entwicklungen beschränkt. Die Orientierung moderner Gesellschaften an Wachstum, Fortschritt und technischer Neuerung weitet sich heute auf ganz andere Bereiche aus. Sie wandelt sich unter den Bedingungen der Globalisierung, des Klimawandels und der Digitalisierung zur intensiven und strategischen Suche nach Innovationschancen allerorten: Der „neue Geist“2 der 1

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Der Imperativ „Du musst dein Leben ändern“ (Sloterdijk 2009) steht damit in Einklang, ist jedoch weniger bestimmt. Die „Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativimperativ: …Man will kreativ sein und soll es sein.“ (Reckwitz 2012, S. 10) trifft es schon genauer, betont die Genealogie und ästhetischen Wurzeln des bürgerlichen Kreativmodells und unterbelichtet jedoch dabei die sozialen Dynamiken der Innovation, wie sie im Spannungsfeld zwischen institutionalisierten Differenzen und Referenzen gegenüber vielfältigen Praktiken reflexiver Innovation entstehen und sich als besondere Felder der Innovation durchsetzen. Anders als in Boltanski und Chiapello (2003), deren Analyse als Beleg für die Erweiterung des kapitalistischen Geistes gelesen werden kann, geht es uns hier um die Verbreitung des „neuen Geistes der Innovation“ auf nicht-wirtschaftliche Felder – analog zu Webers Rationalisierungs-These.

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 W. Rammert et al. (Hrsg.), Innovationsgesellschaft heute, DOI 10.1007/978-3-658-10874-8_3

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Jan-Hendrik Passoth und Werner Rammert

Innovation steckt auch das Politische, das Religiöse, die Künste und die alltägliche Lebensführung an. So steht beim Beispiel der „Energiewende“ selbstverständlich nicht mehr nur die Sicherung des Wohlstands oder die Suche nach einer optimalen Nutzung vorhandener Ressourcen im Vordergrund. Ebenso wird erwartet, dass sich die Umstellung einer führenden Industrienation wie Deutschland auf erneuerbare Energien als politische Innovation von Governanceformen3 und als kulturelle Innovation von urbanen Mobilitätsstilen4 erweisen wird, die in ihrer Mischung auf internationalem Parkett Anerkennung bringt und auf den Ebenen von Regionen, Städten und kollektiven Akteuren Nachahmer findet. Am Fall der unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ diskutierten Umstellung industrieller Fertigung auf digital vernetzte und durch Software gestützte Formen der Produktion und Distribution lässt sich beobachten, dass der Wert dieser Neuerungen nicht allein am wirtschaftlichen Erfolg gemessen wird, sondern ebenso am Potential, die wirtschaftspolitische Rolle Deutschlands innerhalb Europas zu erneuern und eine neue Konstellation von Ko-Produktions- und Konsumpraktiken zu befördern. Schließlic