Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland

Vorgestellt wird eine umfassende Studie zur Lebenserwartung und zu Sterbewahrscheinlichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland. In den Jahren 2007–2009 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern in einer Stichprobe aus W

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Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland Friedrich Dieckmann, Christos Giovis und Ines Röhm

4.1 Problemstellung Die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung ist in den westlichen Industrieländern in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Frauen wie Männer mit geistiger Behinderung haben Lebensjahre dazugewonnen, viele erreichen heute das Rentenalter und haben Aussicht darauf, wie andere Bürgerinnen und Bürger auch die Lebensphase Alter zu gestalten. Historisch bedingt ist die Situation in Deutschland besonders. Über 200.000 Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen wurden unter der Diktatur der Nationalsozialisten in den Jahren 1939 bis 1945 systematisch ermordet (Aly 2013, S. 9). Die erste Generation von Menschen mit geistiger Behinderung, die nach dem Krieg in Deutschland aufgewachsen ist, hat jetzt das Berentungsalter erreicht. Im Gegensatz zu anderen westlichen Industrieländern verfügen wir in Deutschland über wenig Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter.

F. Dieckmann () · C. Giovis · I. Röhm Katholische Hochschule NRW, Piusallee 49, 48147 Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Giovis E-Mail: [email protected] I. Röhm E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 S. V. Müller, C. Gärtner (Hrsg.), Lebensqualität im Alter, Gesundheit, DOI 10.1007/978-3-658-09976-3_4

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F. Dieckmann et al.

Vielleicht hängt es auch mit diesen historischen Gründen zusammen, dass es bislang in Deutschland keine empirische Studie zu Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung gab. Christos Giovis und Friedrich Dieckmann haben eine solche Studie im Rahmen des KVJS-Projekts „Alter erleben“ in Westfalen-Lippe und in Baden-Württemberg durchgeführt und ausführlich dokumentiert (Dieckmann und Metzler 2013). Die durchschnittliche Lebenserwartung ist ein wichtiger Indikator für die Lebensqualität und die Teilhabechancen eines Personenkreises. Eine geringere Lebenserwartung ist auf Erkrankungs- und Sterberisiken zurückzuführen, die eventuell vermieden oder vermindert werden könnten, z. B. durch die Aufhebung von Ungleichheiten im Gesundheitswesen oder die Ermöglichung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen und Lebensstile. Die Lebenserwartung oder, genauer gesagt, die altersbezogenen Sterbewahrscheinlichkeiten sind darüber hinaus wichtig für die Vorausschätzung der zukünftigen Altersstruktur und Entwicklung dieses Personenkreises in der Sozialplanung, um rechtzeitig für angemessene Unterstützungsstrukturen zu sorgen. Ziel unserer Studie war es, am Beispiel von zwei großflächigen Regionen die altersbezogenen Sterbewahrscheinlichkeiten und die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung zu ermitteln. Dabei stießen wir auf zwei Probleme: 1. Stichprobenziehung Es ist nicht möglich, alle Menschen mit einer geistigen Behinderung gemäß einer einheitlichen Definition (z. B. ICD-10 oder DSM-V) in einem großen Gebiet vollständig zu erfassen.