Ungleiche Grundschulen und die meritokratische Fiktion im deutschen Schulsystem

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Ungleiche Grundschulen und die meritokratische Fiktion im deutschen Schulsystem Georg Breidenstein

© Der/die Autor(en) 2020

Zusammenfassung Der Beitrag vertritt die These, dass Ungleichheit im Primarbereich ein Tabu darstellt, und zwar deshalb, weil sie meritokratisch nicht legitimierbar ist. Die Fiktion der Chancengleichheit erscheint zugleich notwendig, um die Selektion im Übergang zur Sekundarstufe rechtfertigen zu können. Denn die Verteilung von Schülerinnen und Schülern auf unterschiedlich aussichtsreiche Bildungsgänge im Sekundarbereich kann nur durch schulisch festgestellte und individuellen Kindern zugeschriebene Unterschiede im „Leistungsvermögen“ gerechtfertigt werden. Angesichts neuerer Befunde zur sozialräumlichen Segregation, zur elterlichen Schulwahl und zur Forcierung des Wettbewerbs im Bereich der Grundschule kann von gleichen Bildungschancen im Primarbereich allerdings kaum die Rede sein. Diese Einsicht ist prekär, sowohl für das Selbstverständnis der Grundschule als Institution als auch für die Legitimationsbasis des gegliederten Schulsystems insgesamt in Deutschland. Schlüsselwörter Meritokratie · Schulische Selektion · Ungleichheit im Primarbereich

Prof. Dr. G. Breidenstein () Phil. Fak. III, Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz, Haus 31, 06099 Halle, Deutschland E-Mail: [email protected]

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G. Breidenstein

Inequal primary schools and the fiction of meritocracy in the German school system Abstract The contribution discusses the connection between primary and secondary education in the German education system. With the transition to secondary education students are distributed to different tracks and this distribution is legitimized by achievement. This legitimation, which is the classic meritocratic one, relies on the idea of egalitarianism in primary education. But empirical evidence on residential segregation, on school choice and on marketization in German primary education points to the fact that equality is only a myth in primary education. This insight is precarious for the self-concept of primary school and for legitimacy of the school system as a whole in Germany. Keywords Meritocracy · Tracking in the German school system · Inequality in primary education

Im folgenden Beitrag soll diskutiert werden, dass und warum ungleiche Bildungschancen im Primarbereich, im Sinne ungleicher Bedingungen zwischen verschiedenen Grundschulen, kaum thematisiert werden – weder von den handelnden Akteuren noch von der Grundschulpädagogik. Es wird die These vertreten, dass Ungleichheit im Primarbereich geradezu ein Tabu darstellt, und zwar deshalb, weil sie meritokratisch nicht legitimierbar ist. Im Gegenteil: Die Fiktion der Chancengleichheit ist, unabhängig von empirischer Evidenz, notwendig, um die Selektion im Übergang zur Sekundarstufe rechtfertigen zu können. Denn die Verteilung von Schülerinnen und Schülern auf unterschiedlich aussichtsreiche Bildungsgänge im Sekundarbereich kann nur durch schulisc