Der Standort des lyrischen Wir

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REPORT


Der Standort des lyrischen Wir Hölderlins kontrastive Exposition zum ›Ister‹ und das Ende der traditionellen Stromdichtung Alexander Nebrig

Online publiziert: 10. August 2020 © Der/die Autor(en) 2020

Zusammenfassung In der Forschung zu Friedrich Hölderlins ›Der Ister‹ besteht ein Konsens darüber, dass die beiden Sprechinstanzen des Gedichtes denselben Standort haben. Diese Deutung identifiziert vorschnell das lyrische Wir der ersten Strophe mit dem lyrischen Ich. Dagegen wird hier das Wir als eine rhetorische Funktion des lyrischen Ich aufgefasst, das die abwesende Sprechergruppe der Sänger anwesend macht (I–II). Die Prosopopoiia wird textgenetisch hergeleitet und als kontrastive Exposition erörtert (III). Sie dient der lyrischen Rede über den Fluss ab der zweiten Strophe als Negativfolie. Die Distanz gegenüber dem lyrischen Wir stellt das lyrische Ich gleichfalls gegen die Tradition der Stromdichtung, die nicht mehr affirmativ gestaltet wird, sondern literalisiert und negiert wird (IV–VI).

The location of the lyrical ›we‹ Hölderlin’s contrastive exposition to ›The Ister‹ and the end of the traditional river poetry Abstract In research on Friedrich Hölderlin’s ›The Ister‹ there is a consensus that the two speaking entities of the poem are located in the same place. Contrary to this opinion, it should be shown that the lyrical ›we‹ of the first strophe is a rhetorical fiction of the lyrical subject, through which the absent speaker group of the singers becomes present (I–II). Derived from text genetics, this prosopopoeia is discussed as a contrastive exposition (III). It serves as a negative foil for lyrical speech about the river. The distance from the lyrical ›we‹ also places the lyrical subject (›I‹) against the tradition of river poetry, which is no longer designed in an affirmative way, but is instead literalized and negated (IV–VI). A. Nebrig () Institut für Germanistik, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected]

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A. Nebrig

Friedrich Hölderlin hinterließ ein teilweise auf der Rückseite der letzten Verse von »Andenken« (1803, Erstdruck 1808) niedergeschriebenes, Fragment gebliebenes Flussgedicht, das sein erster Herausgeber Norbert von Hellingrath 1916 unter dem Titel ›Der Ister‹ publizierte.1 Die Titelwahl der Donaudichtung erfolgte analog zu Hölderlins Flussgedichten »Der Nekar« (1800, zuerst »Der Main«)2 und »Der Rhein« (1808, entstanden 1801)3 sowie mit Blick auf die beiden anderen Donaudichtungen Hölderlins: »Am Quell der Donau«4 und »Die Wanderung« (1807).5 Die Bezeichnung »Ister« (21) verwendet Hölderlin weniger für den gewaltigen Unterlauf der Donau, der ab dem Eisernen Tor Rumänien zunächst von Serbien, dann bald von Bulgarien trennt, schon gar nicht für den Mittellauf, sondern vielmehr für den kleinen, unscheinbaren schwäbischen Oberlauf. ›Der Ister‹ besteht aus drei Strophen zu zwanzig und einer letzten Strophe zu zwölf Versen, deren Ordnung sich aus den Reinschriften des Autors ergibt. Die Strophe