Ein wattierter Hobbes. Zum Menschen- und Geschichtsbild von John J. Mearsheimer

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Ein wattierter Hobbes. Zum Menschen- und Geschichtsbild von John J. Mearsheimer Matthias Zimmer

© Der/die Autor(en) 2020

Zusammenfassung John J. Mearsheimers neues Buch The Great Delusion. Liberal Dreams and International Realities unterzieht die US-amerikanische Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges einer gründlichen Kritik aus der Perspektive des Realismus. Dazu erläutert Mearsheimer die anthropologische Fundierung dieses Zugangs zur internationalen Politik. Diese Analyse zeigt jedoch, dass seine anthropologischen Grundlagen und die Thesen des Realismus nicht zusammenpassen. Hinzu kommt, dass der Wille zum Überleben als unausgesprochene Grundlage der Theorie Mearsheimers heute kooperative Lösungen verlangt. Schlüsselwörter Realismus · Liberalismus · Nationalismus · US-Außenpolitik · Menschenrechte

Hobbes, Muffled: Remarks on John J. Mearsheimer’s Concept of Man and History Abstract John J. Mearsheimer’s new book The Great Delusion. Liberal Dreams and International Realities critically analyzes U.S. foreign policy since the end of the Cold War from a realist perspective, grounding its critique on an anthropological foundation. This analysis shows that Mearsheimer’s anthropological foundation and his realist approach are not conclusive. Moreover, the will to survive, which is the underlying principle of Mearsheimer’s theory, requires cooperative approaches in the contemporary world. Keywords Realism · Liberalism · Nationalism · U.S. foreign policy · Human rights

Prof. Dr. M. Zimmer () Deutscher Bundestag, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

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M. Zimmer

1 Mearsheimer und der Realismus Der Realismus als Theorietradition in der Internationalen Politik ist nach wie vor wirkmächtig. Denker wie Hans Morgenthau, Henry Kissinger und Kenneth Waltz haben diese Tradition ausgearbeitet, verfeinert, begründet und ihre Stärke bei der Analyse internationaler Politik unter Beweis gestellt. Mehr noch: Sie haben auch auf die lange historische Tradition realistischen Denkens von Thukydides über Machiavelli bis Thomas Hobbes als Kronzeugen des Realismus hingewiesen und damit deutlich gemacht, dass der Realismus kein Phänomen verfasster, souveräner Nationalstaaten in der Ordnung des Westfälischen Systems ist, sondern eine historische Grundtatsache des Verhältnisses von Staaten untereinander. Die Studie The Great Delusion. Liberal Dreams and International Realities von John J. Mearsheimer (2018) steht in dieser Tradition. Es ist eine grundlegende Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts,1 gleichzeitig aber auch eine Begründung realistischen Denkens aus dem Wesen des Menschen heraus, also eine philosophische Betrachtung. Letztere ist Gegenstand dieser Analyse. Viele der in einfacher, gleichwohl eindringlicher Sprache vorgetragenen Befunde von Mearsheimer sind eingängig und einleuchtend. So scheint es plausibel, dass die Überbetonung liberaler Ideen2 in der Außenpolitik dazu führt, dass die Mittel zur Erreichung politischer Ziele entg