Therapieempfehlungen sind immer ein Kompromiss
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„Wie schaffen wir den Spagat zwischen Anspruch und Realität? Wir werden auch weiterhin die klinische Erfahrung und das Expertenwissen wertschätzen müssen.“
Prof. Dr. med. Wolfgang Jost ist Chefarzt der Parkinson-Klinik Ortenau und Mitglied des DNP-Fachbeirats
Therapieempfehlungen sind immer ein Kompromiss
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tellen Sie sich vor, Sie wären ein Allgemeinmediziner und müssten am Tag über hundert Patienten sehen. Viele davon sind älter und multimorbid, mit Symptomen aus allen Fachrichtungen. Die verfügbare Zeit für Anamnese und Untersuchung ist sehr begrenzt und sie sollen nicht nur in kurzer Zeit die Krankheiten erkennen und therapieren, sondern auch noch wissen, wann Ihre Kompetenz an die Grenze gelangt ist und sie Patienten überweisen müssen. – Meines Erachtens eine schier unlösbare Aufgabe. Ich habe es besser, da ich mich in meiner Berufslaufbahn immer weiter spezialisieren durfte und mich jetzt schwerpunktmäßig mit dem Parkinson-Syndrom beschäftige. Und trotzdem ist mein Wissen zur Krankheit begrenzt und ich kann nur einen Bruchteil der Publikationen lesen. Bleiben wir beim Parkinson-Syndrom. Wir wissen immer noch nicht, wie und warum die Krankheit entsteht. Wir stürzen uns auf neue Erkenntnisse und Methoden und hoffen, dass dies zur Klärung beiträgt. Dabei sind wir auch bereit, Widersprüche zu akzeptieren. Wir bauen Leitlinien auf eine geringe Evidenz auf und nehmen Stellung zu seltenen Symptomen und Krankheiten, obwohl wir nur Einzelfälle gesehen haben und auch mittelfristig keine Sicherheit bekommen werden. Ein Gebilde aus Vermutungen, Einschätzungen und Hypothesen, gemischt mit unterschiedlichen Erfahrungen. Viele Kollegen werden auf die klinische Erfahrung verweisen, die aber trügt, da wir eine sehr selektive Wahrnehmung haben. Selbst Spezialisten entgehen Kernsymptome mitunter jahrelang. Wie ist es sonst zu erklären, dass vegetative und neuropsychiatrische Symptome beim Parkinson-Syndrom oft nicht adäquat beachtet oder sogar übersehen wurden? Wir haben das Problem, dass wir einerseits eine EBM-gerechte Diagnostik und Therapie wünschen, andererseits die meisten Sachverhalte weder untersucht noch bestätigt wurden. Daran scheitern oft
DNP – Der Neurologe & Psychiater 2020; 21 (6)
auch Leitlinien. Die Fragestellungen sind komplex und die Datenlage unzureichend, sodass die Gefahr besteht, dass Nebenschauplätze überbewertet werden, weil dafür Studienergebnisse vorliegen. Deshalb ist es sicher sinnvoll, dass für das ParkinsonSyndrom aktuell nur die Entwicklungsstufe S2k erarbeitet wird. Bei der letzten S3-Leitlinie blieben viele Fragen offen, weshalb die Akzeptanz gering war. Wie schaffen wir nun den Spagat zwischen Anspruch und Realität? Wir werden auch weiterhin die klinische Erfahrung und das Expertenwissen wertschätzen müssen. Das bedeutet nicht, dass jeder alles darf, nur, weil er die Meinung vertritt, er habe diese Erfahrung gemacht. Expertenwissen ist die optimale Kombination von wissenschaftlicher Kompetenz und klinischer Erfahrung. Deswegen ist es auch nicht sinnvoll, wenn aus übertriebener politic
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